Virtuelle Lernsequenzen sind vielerorts bereits Teil der Ausbildung in Betrieben. Am Get-Together von EB Connect stellten Firmen ihre aktuelle VR-Projekte vor. Besucherinnen und Besucher konnte diese praxisnah erleben und sich mit den Verantwortlichen austauschen.
«Der Computer verurteilt einen nicht gleich, wenn man Fehler macht – dem ist das egal», beschreibt Natacha einen der Vorteile von VR in der Ausbildung. Sie ist Elektroinstallateurin EFZ bei der Baumann Koelliker Gruppe, welche bei Ausbildungen VR-Sequenzen integriert. «Es ist eine coole Erfahrung, die das Praktische aber nicht ersetzen kann.» Ähnlich klingt es bei Tim, der im Ausbildungszentrum Zürcher Oberland (AZO) in Uster eine Ausbildung als Informatiker EFZ Applikationsentwicklung macht: «Mit der VR-Brille kann man halt nichts falsch machen, es ist richtig gut, damit zu üben». Trotzdem ist die Wirklichkeit für ihn immer noch am besten, «weil es halt viel echter ist.»
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«Je grösser die Immersion des Lernenden in die Arbeitssituation, desto besser ist die Erinnerung ans Erlernte.»
Diese Rückmeldungen stehen stellvertretend für die Erfahrungen von Lernenden, die bei ihrer Ausbildung erstmals mit virtuellen Lerninhalten in Kontakt kommen. Dass solche in der Berufsbildung allmählich an Bedeutung gewinnen und deren Sinnhaftigkeit und Effizienz bereits in wissenschaftlichen Studien untersucht werden, stellte auch Gabrielle Leisi fest. Daher organisierte die Leiterin Innovation und Projekte von EB Connect Anfang November 2023 ein Get-Together zum Thema «VR in der Grundbildung praktisch erleben». Ziel der Veranstaltung war es, zu zeigen, wie Lehrbetriebe und Berufsschulen diese innovative Technologie bereits in der Grundbildung einsetzen.
An fünf Meeting-Points zu verschiedenen Themen unterhielten sich die Besucherinnen und Besucher mit Fachverantwortlichen über bereits realisierte Projekte und dabei aufgetretenen Herausforderungen. Mit VR-Brillen tauchten sie dabei auch in virtuelle Welten ein und erlebten so praxisnah neue Tools.
Rundgang Meeting-Points
Dass Ben Hüter von der Berufsbildung in Holland fasziniert ist, war nicht zu übersehen. Der Direktor des Berufsbildungszentrum IDM in Thun hatte bei Besuchen und gemeinsam realisierten Projekten das niederländische Ausbildungssystem en détail kennengelernt. Sein etwas ernüchterndes Fazit: Aufgrund anderer kultureller Werte bzw. unserer föderalen Strukturen ist die starke Zentralisierung, die in Holland bei der Berufsbildung vorherrscht, nicht auf die Schweiz übertragbar.
Idealtypisch ist für Ben Hüter das Summa College in Einhoven, dem er auch das Motto seines Meeting-Points entlehnte: «The Future starts here». Das College ist eine von insgesamt fünf geplanten Schulen, die Tausende von Studierende in Digitalen Techniken ausbilden. Es waren vor allem die Grösse, die ihn dort beeindruckte, und die starke Zusammenarbeit zwischen Schule und Industrie, die sich sogar im gleichen Gebäude befinden. So besprechen Lernende zum Beispiel Themen der Robotik, und gehen anschliessend zum daneben liegenden Betrieb, wo sie ihr neues Wissen direkt umsetzen. Auch plädierte Ben Hüter für einen intensiveren Austausch mit anderen Ländern, wie etwa beim EU-Projekt CoVE.
Wie VR bei der Ausbildung von Köchen eingesetzt werden kann, die in sehr unterschiedlichen Umgebungen – Klein- oder Grossküche – arbeiten, zeigten Alex Wilhelm und Roland Menzi von der Allgemeinen Berufsschule Zürich (ABZ). Im Rahmen ihres Projekts «Virtual Reality im Berufskundeunterricht der Köche» schufen sie ein VR-Modul für die Warenannahme in einem Fünfsternehotel. So kommen auch Angestellte von kleinen Restaurants in eine Lernsituation, die sie in ihrem Betrieb nicht vorfinden. Um ein möglichst reales Umfeld abbilden zu können, suchten sie einen Betrieb, der sie dabei unterstützte. Die Lernsequenz stellten sie mit einem 360°-Video dar.
Für viele der 174 Lernenden im zweiten Lehrjahr war der Kontakt mit VR neu, dennoch fanden es zwei Drittel von ihnen «supercool» – und das trotz Motion Sickness! Die Gamer unter den Lernenden stuften es hingegen eher langweilig ein. Zusammen mit der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) – ein Team um Alberto Cattaneo unterstützte die ABZ bei der technischen Umsetzung – wird die VR-Erfahrung der Lernenden nun ausgewertet. «Schon jetzt lässt sich sagen, dass der Lernerfolg mit VR-Einsatz nachhaltiger ist als ohne», so Alex Wilhelm.
Auf die Idee, diese VR-Applikation im Betrieb mit den Lernenden einzusetzen, kam Marc Röthlisberger, Verantwortlicher für Berufsbildung bei der Baumann Koelliker Gruppe, an einem Kurs für Berufsbildner. Der Prototyp dieser Applikation wurde von der PHZH und der ZHAW während zweier Jahre konzipiert, entwickelt und evaluiert.
Zusammen mit Urs Langenegger von der Firma Bandara entwickelte er die noch fehlende fünfte Messung, die Schutzleiterprüfung. Anschliessend setzte seine Arbeitgeberin diese in der Grundbildung von Montage-Elektrikern und Elektroinstallateuren bei der baubegleitenden Erstprüfung nach einer Elektro-Installation ein. Dabei messen Lernende unter anderem virtuell Strom.
Am Meeting-Point konnten Interessierte selbst fünf verschiedene Tests durchführen und die VR-Brillen waren im Dauereinsatz. Die Erfahrungen im Betrieb müssten sie noch zusammen mit der Firma Bandara evaluieren, so Marc Röthlisberger. Erste Ergebnisse sollten bis Ende November 2023 vorliegen. Ein Nachteil sei allerdings für ihn, dass die Akzeptanz unter den Lernenden noch zu wünschen übrig lasse und sie teils zu wenig interessiert sind.
Am Meeting-Point des Ausbildungszentrums Zürcher Oberland (AZO) in Uster waren drei Lernende fleissig mit ihren VR-Brillen beschäftigt und montierten virtuell einen PC. Am Monitor konnte man sehen, wie sie zu einzelnen Komponenten griffen und diese am richtigen Platz einsetzten. Die entsprechenden Anforderungen gab ihnen das System vor. Das AZO setzt VR-Brillen bei ihren Ausbildungen ein, zum Beispiel bei derjenigen von Informatiker EFZ Applikationsentwicklung.
Im Bereich der Gebäudetechnik entwickelte das AZO zusammen mit Atlas VR eine virtuelle Sequenz für die Ausbildung von Spenglern. Dabei lernen sie, Bitumen auf Flachdächern zu verschweissen. Pro Jahr sollen so bis zu 250 Lernende geschult werden. Das Feedback ist generell positiv. Neben virtuellen Tools ist aber auch Künstliche Intelligenz bereits ein grosses Thema: Bei seiner Ausbildung zum Applikationsentwickler schreibt der Lernende Albaraa viel Code mit ChatGPT.
Wie können Lehrpersonen und Berufsbildende VR/AR möglichst unkompliziert einsetzen? Mit diesem Thema beschäftigen sich Roy Franke, Bereichsleiter EB Digital an der EB Zürich, und sein Team seit gut zwei Jahren. Im Spatial Computing Lab beantwortete er gemeinsam mit Digital Learning Experte Christian Flury Fragen und bot Hilfestellung bei ersten Gehversuchen im Metaverse. Dazu verfügt der Raum über sechs Bewegungsfelder mit Monitoren, welche die Inhalte der VR-Brillen wiedergeben. Zur Auswahl standen an diesem Nachmittag ein Ausflug zur ISS-Raumstation sowie der virtuelle Besuch des Anne-Frank-Museums in Amsterdam. Ebenfalls konnten Interessierte einen Rundgang durch den virtuellen Lernraum der EB Zürich unternehmen, wo das neue Kurs- und Coaching-Angebot im Bereich VR/AR als 3D-Portfolio dargestellt ist.
VR im Unterricht – ein Resümee
So unterschiedlich die vorgestellten Projekte auch sind, so weisen sie doch ähnliche Erfahrungen oder Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung auf. Zusammenfassend lässt sich sagen:
- Attraktives Lernen: Die Technologie ermöglicht orts- und zeitunabhängiges Lernen bei eigener Geschwindigkeit.
- Inhalte und Didaktik: Hochwertige VR-Lernsequenzen zu gestalten, ist zeitaufwändig und erfordert spezielles Know-how.
- Austausch mit anderen: Die Zusammenarbeit schafft Synergien, fördert Innovationen und hilft Ressourcen einzusparen.
- Kosten: VR-Hardware und -Software sind teuer, was den Zugang zu dieser Technik einschränkt.
- Technische Herausforderungen: Die Nutzung läuft nicht immer reibungslos und es braucht ein leistungsfähiges und schnelles Internet.
- Externe Unterstützung: Fachpersonen und/oder spezialisierte VR-Unternehmen sind nötig, um Projekte umsetzen zu können.
Diese Punkte sind nicht abschliessend zu verstehen. Je nach Branche und Projekt sind weitere Faktoren denkbar, die beim Einsatz von VR in der Berufsbildung relevant sind. Gespannt sein darf man auch auf die wissenschaftlichen Auswertungen: Die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung (EHB) begleitet das Gastro-Projekt der ABZ, die ZHAW und die PH Zürich evaluieren das Projekt der Baumann Koelliker Gruppe. Doch ganz egal wie diese Analysen ausfallen werden, lässt sich bereits jetzt feststellen, dass virtuelle Sequenzen in der Berufsbildung bzw. in der Bildung generell weiter an Bedeutung gewinnen werden. Schon allein der ‘Siegeszug’ von ChatGPT seit seiner Veröffentlichung im November 2022 zeigt, was nur innerhalb eines Jahres möglich ist.
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«Innovation entsteht vielfach durch Inspiration oder ‘Abschauen’; hier sollte die Schweiz besser werden und mehr Geld in Austauschprogramme in der Berufsbildung investieren.»
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«Die Brille sagt dir genau, was du machen musst, und sie macht dich auf Fehler aufmerksam.»
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«Um virtuelle Lernsequenzen zu gestalten, braucht es technisches, aber auch methodisch-didaktisches Know-how.»
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EB Connect bietet mit Get-Together eine ideale Plattform für Fachpersonen und Interessierte, um innovative Themen in der Berufsbildung aus unterschiedlichen Perspektiven zu vertiefen und sich zu vernetzen.
Das nächste Get-Together findet am 1. November 2024 statt zum Thema «Lernvolution, die Fortsetzung!» – Save the Date!