Frau Sessa, warum beteiligt sich Dübendorf am Pilotprojekt?
Das Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) hat uns für eine Teilnahme angefragt. Dübendorf ist die viertgrösste Stadt im Kanton Zürich und hat einen Ausländeranteil von über 37 Prozent. Wir sind seit Jahren sehr gut vernetzt im Bereich der Integrationsarbeit und der frühen Förderung. Zudem arbeitet unser Leiter des Einwohneramtes in der Projektgruppe mit und so lag es für Dübendorf auf der Hand, als Pilotgemeinde am Projekt teilzunehmen.
Bezüglich des Programms «START! Berufsbildung», wann kommen Neuzugezogene zu Ihnen auf die Integrationsstelle?
Bei spät eingereisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen erleben wir häufig zwei Szenarien. Einerseits kommt ein Elternteil zu uns, der bereits in Dübendorf lebt und im Rahmen des Familiennachzugs die Ehepartnerin oder den Ehepartner und/oder die Kinder in die Schweiz holen möchte. Dieser erkundigt sich nach den Möglichkeiten für die Kinder bezüglich Schule und Berufsbildung. Andererseits wenden sich Personen an unsere Fachstelle, gleich nachdem ihre Familien in der Schweiz angekommen sind. Daneben erhalten wir vom Einwohneramt eine Meldung über die neu aus dem Ausland zugezogenen Personen und können die Zielgruppe zu einem Gespräch einladen.
Wie laufen die Erstgespräche auf Ihrer Fachstelle ab?
Beim Erstgespräch mit spät zugereisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen mache ich mir ein erstes Bild, indem ich sie nach ihrem schulischen Hintergrund und den Sprachkenntnissen frage. Bei sehr jungen Personen kläre ich zuerst ab, ob sie von der Sekundarschule aufgenommen werden können. Ist dies nicht möglich, aufgrund ihres Alters oder weil sie im Herkunftsland die obligatorische Schule abgeschlossen haben, bespreche ich mit ihnen die Möglichkeiten, die sich in ihrem Fall anbieten. Besonders wichtig ist mir beim Gespräch, die Jugendlichen abzuholen: Ich frage sie, wo sie sich sehen, was ihr Wunschberuf wäre und ob sie schon konkrete Pläne haben. Die Gespräche finden oft auf Italienisch und Spanisch, manchmal auch auf Englisch oder Portugiesisch statt. Ich mache Eltern wie Jugendliche darauf aufmerksam, dass die Sprache der Schlüssel zur Integration ist und die Jugendlichen so schnell wie möglich das Deutsch-Niveau A2 erreichen sollten.
Was fragen allgemein neu zugezogene Familien bei einem Erstgespräch?
Meist sind es Fragen zum Schul- und Bildungssystem. Wir erklären ihnen anhand eines Schemas die Schulstufen und das schweizerische Konzept der Berufslehre. Für viele klingt es überraschend, dass im Kanton Zürich nur rund 20 Prozent der Jugendlichen ein Gymnasium besuchen und die Mehrheit eine Berufslehre absolviert. Die Familien und die Jugendlichen sind dankbar, dass wir ihnen Lösungen aufzeigen können, wie zum Beispiel den Vorkurs «Deutsch und Praxis» der Stiftung WBK Dübendorf oder seit dem 1. Januar 2025 das Programm «Start! Berufsbildung» der EB Zürich.
Quote
«Meine Kolleginnen und Kollegen in anderen Gemeinden und ich sind dankbar, dass es das Angebot ‹START! Berufsbildung› gibt.»
Welche Reaktionen beobachten Sie bei den Gesprächen?
Die meisten Jugendlichen sind erleichtert, weil sie sehen, dass es für sie mit einer vorbereitenden Schule und anschliessend einer Integrationsvorlehre oder Berufslehre Möglichkeiten gibt. Andere sind enttäuscht, wenn sie merken, dass sie nicht ans Gymnasium gehen können. In diesem Fall versuche ich, ihnen Mut zu machen, und zeige die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems auf. Nach der Berufslehre eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung, beispielsweise durch ein Studium an der Fachhochschule. Auch wenn die ersten zwei, drei Jahre hart sind: Es lohnt sich, so schnell wie möglich gut Deutsch zu lernen und an sich zu glauben.
Was macht die Situation der «nachgezogenen» Jugendlichen so speziell?
Die Jugendlichen befinden sich in einer sensiblen Phase ihres Lebens: Sie haben in ihrer Heimat alles zurückgelassen, Umgebung, Struktur, Freunde und das ganze soziale Umfeld. Oft erleben sie einen Kulturschock, denn alles ist anders als gewohnt. Es ist essenziell, den Jugendlichen wieder eine Struktur zu geben, sonst besteht die Gefahr, dass sie depressiv werden oder durchs Netz fallen. Mit einem Vorkurs in Sprache und Integration oder einem Programm wie «Start! Berufsbildung» geben wir ihnen eine Zukunftsperspektive.
Was war für Sie bisher ein Highlight bei Ihrer Arbeit?
Ich erinnere mich gut an einen Jugendlichen, der nach meiner Beratung zuerst den Vorkurs «Deutsch und Praxis» und dann ein BVJ «Sprache und Integration» absolviert hat und jetzt eine Berufslehre als Fachperson Gesundheit macht. Ich bin ihm auf der Strasse in Dübendorf begegnet, er hat mich gegrüsst und mir das erzählt. Manche Jugendliche oder Eltern kommen wieder zu mir ins Büro oder schreiben ein Mail, wenn sie Fragen haben. Durch die persönliche Beratung und die Unterstützung, die sie von uns erhalten, bildet sich eine Vertrauensbasis.
aufgezeichnet von Jürgen Deininger
_________________________________________
zur Person
Gina Sessa kam Ende 1980 im Alter von acht Jahren mit ihren Eltern und zwei jüngeren Geschwistern in die Schweiz. An der Primarschule lernte sie Deutsch, anschliessend machte sie eine KV-Lehre und holte an der KME die Matura nach, bevor sie in Zürich und Genf Sprach- und Literaturwissenschaften studierte. Über die Kinder- und Jugendarbeit kam sie zur Stadt Dübendorf, wo sie seit 2012 als erste Integrationsbeauftragte den Bereich «Familie und Integration» leitet.